AKTUELL


RELIQUIAE VITAE
Spurensicherungen

Die Arbeitsweise von Friedemann Blum lässt sich mit einem Begriff beschreiben, der sich in den 1970er in der Kunst einbürgerte: Spurensicherung.
Der Hamburger Kunstverein betitelte damit 1974 eine Ausstellung, die erstmals in Deutschland diese neue Kunstrichtung präsentierte. Dass sich die
damals beteiligten Künstlerinnen und Künstler aus Frankreich, Italien und Deutschland untereinander kaum kannten, verweist auf ein besonderes
Merkmal der Spurensicherung: Sie beruht auf keinem gemeinsamen Manifest und auf keiner Gruppenbildung. Vielmehr ist sie einfach eine
Arbeitsmethode, die von einzelnen, häufig isoliert arbeitenden Künstlerinnen und Künstler an unterschiedlichen Orten entwickelt wurde und bis
heute wenig von Ihrer Faszination verloren hat.


Entstanden ist die Arbeitsmethode der Spurensicherns wohl aus einem Bedürfnis nach Besinnung und Erinnerung, das sowohl gegen den
Fortschrittspathos der modernen Kunst als auch gegen den raschen technologischen Wandel in der Gesellschaft gerichtet war. Bekanntlich
beschleunigte sich in den 1970er Jahren der Niedergang alter Industrien wie Stahl, Kohle und Textil, was zu riesigen Bauruinen in bisher blühenden
Städten führte. Darauf regierten die Künstler, in dem sie die Spuren der untergegangenen Arbeits- und Lebensweisen sicherten und ausstellten.
Zugleich erschöpfte sich der Fortschrittspathos der modernen Kunst, denn deren Methode der Dekonstruktion des abbildhaften Kunstwerks hatte
in den 1960er Jahren mit der Farbfeldmalerei und der Minimal Art ihren Endpunkt erreicht. Weiter konnte das abbildhafte Kunstwerk nicht zerlegt
werden. So gesehen war auch das Fortschrittspathos der Moderne an einem Endpunkt angekommen, das die Spurensicherer mit ihrer bewussten
Rückwendung auf Vergangenes konterkarierten.


Diese Haltung, welche die erste Generation der Spurensicherer auszeichnete, teilt auch eine jüngere Generation von Künstlern, zu der Friedemann
Blum zu rechnen ist. Sie alle haben ein grundlegendes Interesse an den Überresten vergangenen Lebens, das sich an konkret vorhandenen, unwert
gewordenen Gegenständen festmachen lässt. Insofern bezeichnet der Ausstellungstitel Reliquiae vitae exakt das Erkenntnisinteresse und die Arbeitsweise
Friedemann Blums, wobei die antiquierte und zugleich würdevoll klingende lateinische Schreibweise für Überreste des Lebens seine prinzipielle Achtung
vor der Vergangenheit wirksam unterstreicht.


Mit der bewussten Be-Achtung des Vergangenen gerät der Künstler fast zwangsweise in Widerspruch zur Politik, denn diese propagiert ständig, „die
Zukunft gestalten“ zu wollen. So versprechen Politiker - sowohl in Demokratien als auch in Diktaturen – immer, die Gesellschaft „für die Zukunft gut
aufzustellen“. Bei dieser Formulierung handelt es sich meist jedoch um eine reine Leerformel, die eine dringend notwendige Diskussion darüber
ausklammert, welche Werte eine Gesellschaft bewusst bewahren und entwickeln will. So wird die Kunst der Spurensicherung – mindestens partiell – auch
zu einem Akt des Widerstands gegen ein Gesellschaftsverständnis, das Erfolg einzig an wirtschaftlicher Prosperität und einer guten „Aufstellung“ im
Prozess der Globalisierung misst.

Dr. René Hirner